Die hier vorgestellte Arbeit präsentiert die Auswertung derflächendeckenden Waldinventur. Die Ergebnisse sind immer unter demGesichtspunkt zu bewerten, dass in einem Wildnisgebiet, welches den strengenKriterien der Weltnaturschutzorganisation IUCN und den ebenso strengenKriterien eines UNESCO Weltnaturerbes unterliegt, andere Maßstäbe anzusetzensind als in Wirtschaftswäldern.
Die Datenerhebung, Verarbeitung und Auswertung wurden im Zuge eines Auftrages durch die Österreichischen Bundesforste (ÖBf) durchgeführt. Der Erhebungsraster der ÖBf wurde deutlich verdichtet und auf das gesamte Gebiet angewendet. Methodisch wurde konsequent nach dem Schema der ÖBf (für den Wirtschaftswald) gearbeitet. Um den Zielen eines Wildnisgebietes gerecht zu werden, wurden ergänzenden Erhebungen zu biodiversitäts- und strukturrelevanten Größen, die für ein Prozessschutzgebiet von besonderem Interesse sind, durchgeführt. Auf diese, sowie auf Baumarten- und Verjüngungszusammensetzung, Wildeinfluss (Schälung und Verbiss) und Totholzvorräte wird seitens der Schutzgebietsverwaltung im Folgenden eingegangen.
Es wurden vier Teilgebiete ausgeschieden, die sich hinsichtlich der Dauer der Außernutzungsstellung unterscheiden: Die Fläche Urwaldrepräsentiert den Urwald Rothwald, der seit seiner Entstehung (nach Ende der letzten Eiszeit) keine flächige Nutzung erfahren hat. In die Fläche Neuhaus fallen im Großen und Ganzen die Probepunkte, die die „Erste Generation nach Urwald“ repräsentieren. Dieser Wald mit der internen Bezeichnung “Lahnwald” wurde nur einmal vor ca. 250 Jahren flächig genutzt, und nie aufgeforstet. Dürrenstein ist die Fläche im niederösterreichischen Teil des Wildnisgebietes, die teils seit der Gründung des Wildnisgebietes vor ca. 25 Jahren, teils bereits viellänger, teils erst ab 2013 durch die ÖBf aus der Nutzung genommen wurde. Lassingtal ist jene Fläche, die auf steirischer Seite seit 2021 das Wildnisgebiet durch Flächen der ÖBf ergänzt. Mit Ausnahme des Urwaldes wurden alle Flächen zumindest einmal forstlich genutzt, z. T. unmittelbar bis zur Außernutzungsstellung. Diese unterschiedliche Nutzungsdauer spiegelt sich beinahe in allen erhobenen Kennwerten, wie Totholzmenge, Bestandesvorräten, Strukturen, Mikrohabitate etc. wider.
Das Thema Verbiss wird in der Forstwirtschaft, aber auch imNaturschutz sehr kontroversiell diskutiert. Für ein Prozessschutzgebiet der Kategorie I nach IUCN, wie dem Wildnisgebiet, zählt in diesem Zusammenhangausschließlich, ob die Waldgesellschaften in ihrer Gesamtheit gefährdet sind, oder nicht. Es geht in einem Prozessschutzgebiet weder um die Produktion von Wertholz im Sinne eines ökonomischen Gesichtspunktes, noch um geradschaftige Bäume oder Erhaltung eines bestimmten Zustandes. Wichtig in einem Prozessschutzgebiet ist, dass die Lebensgemeinschaften auf natürliche Gegebenheiten ohne Zutun des Menschen reagieren können und ohne Zutun des Menschen standortgerechte Waldgesellschaften erhalten bleiben oder sich entwickeln können. Dies betrifft Auswirkungen des Klimawandels ebenso, wie z.B. den Verbiss durch Huftiere. Über das gesamte Gebiet gesehen weisen nur ca. ein Drittel der Jungpflanzen einen Verbiss auf. Der Verbiss muss nicht letal sein, im Gegenteil, auch mehrfach stark verbissenen Jungbäume überleben, sie brauchen nur länger, um aus dem Äser zu wachsen. Da in einem Prozessschutzgebiet die forstliche Zielsetzung zur Produktion hochwertiger Bloche fehlt, ist lediglich entscheidend, ob es dem Baum gelingen wird, ein Alter zu erreichen, welches ihm ermöglicht zu fruktifizieren. Zeit spielt dabei keine Rolle. Bäume in Urwäldern stehen oftmals 100 oder mehr Jahre unter Druck bzw. im Schatten anderer Bäume. Erst der Tod eines Baumriesen lässt genügend Licht einfallen, sodass dieser unterständige Baum bis in die Oberschicht zu wachsen beginnen kann. Liegt der Verbiss bei ca. einem Drittel der Bäume, so sind im Umkehrschluss ca. zwei Drittel der Bäume nicht verbissen. Diese Ergebnisse decken sich auch mit den Erhebungen aus dem Wildnisgebiet von Reimoser & Reimoser (2015) und Reimoser et al. (2023), die keine Bestandesgefährdung sehen. Auch in den besonders sensiblen Lebensräumen, wie z.B. dem Urwald Rothwald, ist aktuell keine erhöhte Gefährdung festzustellen. Dies gilt auch für jene Baumart, die aktuell in ganz Österreich Experten Sorgen bereitet, die Tanne. Der Verbiss für diese Baumart liegt im Wildnisgebiet bei ca. 30 %. Auch wenn bei den verbissenen Bäumen ein hoher Prozentsatz zur Gänze ausfallen könnte, besteht infolge des Wildverbisses keine flächige Gefährdung. Trotzdem verzeichnet gerade die Tanne großflächig weit über das Wildnisgebiet hinaus Probleme bei der Vermehrung. „Im Laufe des weiteren Wachstums des Waldbestandes sterben über die Jahrzehntenaturgemäß die meisten Bäume wieder ab, ohne später am Altbestand beteiligt zu sein, egal ob sie in ihren ersten Lebensjahren vom Wild verbissen wurden oder nicht (kompensatorische Sterblichkeit). Es gibt also viele Faktoren, die auf Jungbäume und die Waldentwicklung Einfluss haben, nicht nur den Wildverbiss. Dies sollte stets bedacht werden.“ (Reimoser F. schriftl. Mitteilung 2025).Gerade das Wildnisgebiet würde sich für die Erfassung dieser Einflussfaktoren auf die Vermehrung der Tanne anbieten, um daraus auch Rückschlüsse für die Forstwirtschaft ziehen zu können.
Die Baumartenzusammensetzung in der Dickungsphase sieht anders aus. Hier fällt besonders der Rückgang des Bergahorns gegenüber der Naturverjüngung auf, auch Tanne und Esche sind in der Dickung nur in geringen Stückzahlen vorhanden. Insgesamt zeigt sich ein starkbuchendominiertes Dickungsstadium, gefolgt von der Fichte, während die Vielfalt der Naturverjüngung nur eingeschränkt in die nächste Entwicklungsphase übergeht. V.a. die Standortansprüche der einzelnen Baumarten spielen hier eine große Rolle. Während die Buche, die zudem im Wildnisgebiet sehr wüchsig sein kann, schattentolerant ist, sind sogenannte Lichtbaumarten wie die Esche oder der Bergahorn auf vielen Standort im Wildnisgebiet im Nachteil. Eine Sonderstellung nimmt auch hier die Tanne ein. Sie ist eine Schattenbaumart, kommt in der Verjüngung durchaus vor und sollte daher auch in der Dickung zu finden sein, was jedoch nur selten vorkommt. Auch wenn die Tanne bevorzugt verbissen wird, was auf ca. 30 % der Verjüngung zutrifft, müssen weitere Faktoreneinen negativen Einfluss auf die Tanne haben. Generell sind die Vorräte im Dickungsstadium auf den Flächen Urwald und Neuhaus um ein Vielfaches höher als auf den anderen Flächen.
Bei der Inventur (die grundsätzlich für den Wirtschaftswald ausgelegt ist) werden Schälschäden angesprochen. Im Wildnisgebiet, wo es keine Nutzung gibt, kann in diesem Zusammenhang nicht von Schaden gesprochen werden, sondern von Wildeinfluss durch Schälung. Die Ergebnisse für das Schutzgebiet dennoch interessant, sie müssen nur anders interpretiert werden. Ein Aspekt ist die beispielsweise die Habitatqualität für Organismen wie Pilze, die durchderartig „geschädigte“ Bäume entsteht. Die Häufung, Verteilung oder das Ausbleiben neuer Schälungen erlaubt Rückschlüsse über die Auswirkung der Außernutzungsstellung. Die Erhebung hat gezeigt, dass kaum frische Schäle erfasst werden konnte. Die Schälung konzentrieren sich auf die Baumart Fichte und auf die Durchmesserklassen 10 - 30 cm. Dürrenstein und Lassingtal, die beiden bis vor relativ kurzer Zeit forst- und jagdlich genutzten Flächen, stechen mit hohen Alt-Schälvorkommen hervor, zeigen aber keine nennenswerte neue Schälung. Diese hohe Last alter Schäle zeigt eine langfristige Vorschädigung und sorgt nun für eine erhöhte künftige Totholznachlieferung auf diesen Flächen. Dies ist eine Beschleunigung auf dem Weg der Entwicklung hin zu naturnäheren Bedingungen und ist der Biodiversität selbstverständlich förderlich. Es ist anzunehmen, dass die geringe frische Schäle auf die Beruhigung großer Teile des Gebietes zurückzuführen ist. Dies zu belegen, muss jedoch künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Das Wildnisgebiet erreicht beim stehenden Totholz ein durchschnittliches Volumen von 33,6 Vfm/ha, deutlich mehr als Wirtschaftswälder. Die Werte sind jedoch auch innerhalb des Wildnisgebietes erwartbar unterschiedlich. Das stehende Totholz im Urwald verteilt sich auf ein deutlich breiteres Spektrum. Neben mittleren Klassen (30–70 cm) treten auch stärkere Dimensionen (≥ 80 cm) auf, darunter einzelne sehr starke Buchen und Fichten. Auch Tannentotholz in großer Dimension ist hier verfügbar und darin liegt der große Unterschied zu den restlichen Flächen. Das Vorhandensein von Tannentotholz in großer Dimension hat z.B. dem sehr seltenen Hyazinthenduft-Feuerschwamm (Phellinidium pouzarii), den es aktuell nur9-mal in Europa gibt, eine Lebensgrundlage gegeben. Dieses breite Spektrum im Urwald weist auf eine längerfristige Kontinuität und Nachlieferung von Totholzhin. Da starke Dimensionen und die Vielfalt der Baumarten beim stehenden Totholz den ökologischen Wert ausmachen, ist der Urwald von herausragender Bedeutung!
Bei der Erhebung des liegenden Totholzes wurden zwei Methodenangewendet, die in ihren Ergebnissen verglichen werden konnten. Dabei handeltes sich um einerseits das Transekt-Verfahren, das bei der Stichprobeninventur der Bundesforste standardmäßig verwendet wird und andererseits die Vollaufnahme der Österreichischen Waldinventur (ÖWI). Beide Verfahren liefern konsistente Trends und sind stark korreliert, was für die methodische Vergleichbarkeit spricht. Aber gleichzeitig zeigt sich, dass die absoluten Volumenschätzungen deutlich voneinander abweichen. Das Transekt-Verfahren erfasst im Durchschnitthöhere Totholzmengen. Für die Praxis bedeutet dies, dass methodenübergreifende Vergleiche nur eingeschränkt möglich sind. Während relative Muster (z. B. Unterschiede zwischen Beständen oder Gebieten) gut vergleichbar sind, müssen absolute Werte stets im Kontext der verwendeten Methode interpretiert werden.
Die Ergebnisse zeigen ebenfalls auf, dass die Vorräte an liegendem Totholz in allen Gebieten beachtlich sind, jedoch stark variieren. Bei der deutlich konservativeren Methode Vollaufnahme ergibt sich für das gesamte Gebiet ein durchschnittliches Volumen des liegenden Totholzes von 70,5 m³/ha. Auf Ebene einzelner Baumarten ist die Fichte der wichtigste Träger desliegenden Totholzvolumens, gefolgt von der Buche. Die höchsten Mengen liegen im Urwald mit rund 229 m³/ha. Der Urwald sticht aber nicht nur durch außergewöhnlich hohe Totholzvorräte, sondern auch durch die Präsenz sehr starker Dimensionen und späten Zersetzungsstufen heraus – ein Hinweis auf die lange ungestörte Waldentwicklung.
Die nächsthöheren Mengen erreicht die „Erste Generation nach Urwald-Fläche“ Neuhaus mit nur mehr 89 m³/ha. Dieser große Sprung ist überraschend, da es sich hierbei bereits um einen 250 Jahre alten Naturwaldhandelt, der dem Urwald zumindest optisch recht nahesteht. Die Zahlenverdeutlichen aber in verschiedenen Bereichen (auch Struktur und Diversitäts-Indices) den eklatanten Unterschied zu einem „echten Urwald“, der keine flächige Nutzung erfahren hat, seit er nach der letzten Eiszeitentstanden ist. In der Reihenfolge der Außernutzungsstellung finden sich auf der Fläche Dürrenstein 64 m³/ha liegendes Totholz und im Lassingtal 47 m³/ha. Damit wird deutlich, dass Neuhaus, Dürrenstein und Lassingtal mit niedrigeren Vorräten und einer stärkeren Fokussierung auf mittlere Dimensionen eine ältere bis jüngere Nutzungsgeschichte erzählen.
Altbäume sind Schlüsselstrukturelemente, die in Erweiterung zur Inventur mit erhoben wurden: Sie liefern Mikrohabitate (Höhlen, Faulstellen, Astabbrüche, Rindentaschen) und steigern die Habitatkontinuität z.B. für xylobionte Käfer, Spechte und Fledermäuse. Sie sichern die Totholznachlieferung(stehend und liegend) und erhöhen damit die strukturelle Diversität und das Nährstoff-und Feuchtigkeitsangebot. Im Wildnisgebiet liegen die gemittelten Altbaum-Kennwerte bei 0,41 N/ha, 0,19 m²/ha und 2,5 VfmS/ha. Ein direkter Vergleich mit Wirtschaftswäldern ist aufgrund fehlender Daten leider nicht möglich. Jedoch bietet sich wieder der Vergleich innerhalb der Wildnisgebietsflächen an: die „jungen Flächen“ Lassingtal und Dürrenstein haben so wenig besondere Altbäume, dass die Grundfläche am Hektar mit 0 m² ausfällt, Neuhaus hat bereits 0,7 m²/ha und Urwald 1,1 m²/ha. Die Urwald-Flächen sind erwartungsgemäß der Schwerpunkt großdimensionierter Bäume. Sowohl die Stammzahl als auch der Vorrat liegen um Größenordnungen über den übrigen Gebieten. Der Urwald weist die höchsten Dichten und Vorräte auf – also ca. zwei sehr starke Bäume je Hektar. Neuhaus besitzt ebenfalls einen substanziellen Altbaum-Anteil und fungiert damit als zweites „Hotspot-Gebiet“ für großdimensionierte Strukturen. Neuhaus liegt deutlich über dem Gesamtmittel. Dies verdeutlicht wieder den herausragenden Wert von Urwäldern und alten Wäldern für die Biodiversität.
Der Anteil von Bäumen mit mehr als einem Mikrohabitat steigt stark mit dem BHD, bei dünnen Bäumen sind es unter 1%, bei Bäumen über70 cm Brusthöhendurchmesser (BHD) sind es 47%. Damit tragen starke Dimensionen überproportional zur Mikrohabitat-Verfügbarkeit bei. Dies belegt die Tatsache, dass speziell alte Bäume u.a. für die Biodiversität von ökologischer Bedeutung sind, zumal diese in vielen menschlich überprägten Ökosystemen fehlen.
Auch beim Arten- und Strukturindex liegt der Urwald klar vor allen anderen Gebieten. Die Streuung ist gering, was auf flächig ausgeprägte, spät-sukzessionale Strukturmerkmale hindeutet. Auf den Flächen Neuhaus finden sich Teilflächen mit Urwald-Niveau, aber auch deutlichschwächere Bereiche. Das breite Spektrum weist auf Mischungen aus reifen und weniger strukturierten Teilflächen hin. Die Flächen Dürrenstein und Lassingtal zeigen mittlere Ausprägung mit vergleichbarer Streuung. Einzelne Teilflächen erreichen jedoch auch durchaus gute Werte.
Zusammenfassend lässt sich zu den sehr erfreulichen Ergebnissen festhalten, dass die Wälder, die nicht Urwald sind, noch geraume Zeit benötigen, um einen urwaldähnlichen Charakter aufweisen zu können. Dennoch spiegelt sich, wenn auch in unterschiedlichen Gradienten, die Außernutzungsstellung auf allen Flächen wider.
Dieses Projekt wird durch den Biodiversitätsfonds des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Klima- und Umweltschutz, Regionen und Wasserwirtschaft gefördert.








